344. Die Wunderblume auf dem Spitzberge bei Gottesgab. E-Mail

(Wenisch, Sagen aus dem Joachimsthaler Bezirke, S. 72.)


In südwestlicher Richtung von Gottesgab erhebt sich der kegelförmige basaltische, mit Wald bedeckte Spitzberg. Auf demselben stand nach der Sage in alten Zeiten ein großes, festes Schloss. Dort hauste mit gleichgesinnten Spießgesellen ein Ritter, der als Räuber und Mörder sich in der ganzen Gegend furchtbar machte. Einst geschah es, dass ein greiser Mönch aus dem nahen Kloster zu Mariasorg bei dichtem Nebel sich auf dem öden Heideplateau verirrte und in die ruchlosen Hände dieser Räuber fiel. Sie schleppten den Priester auf ihr schwer zugängliches Raubnest und warfen ihn unbarmherzig ins Burgverlies, wo er eines qualvollen Hungertodes sterben sollte. - Als die gottlosen Missetäter im Saale sich bei lärmendem Becherklang ihrer ausgeführten Verbrechen in frechen Lästerreden rühmten, sank der dem Tode überlieferte Mönch auf die Knie und flehte im inbrünstigen Gebete zu Gott, dem starken Helfer in der Not, dass er die berüchtigte Mörderburg in einen Schutthaufen verwandle. Plötzlich machte ein furchtbarer Donnerschlag die Mauern des stolzen Schlosses wanken, sie stürzten zusammen und begruben die Räuber unter ihren Trümmern, nur der Mönch wurde gerettet. Die angehäuften Schätze aber versanken in des Berges inneren Schoß. - Nach langen Jahren träumte einmal einem armen, frommen Hirtenjungen drei Nächte hintereinander, dass er dazu erkoren sei, den im Innern des Spitzberges verborgenen Schatz zu heben. Zwei Tage hatte er schon seine Kühe auf diesem Berge geweidet, und noch war ihm kein Anzeichen geschehen. Als er nun am dritten Tage - es war der Karfreitag – wieder seine Herde am Spitzberge hütete, sah er auf einmal auf einem nahen

Felsblocke eine wunderschöne gelbe Blume stehen. Ei, dachte er, eine so schöne Blume habe ich in unseren Bergen und Tälern noch nicht gesehen! Ich werde sie pflücken und auf meinen Hut stecken, gewiss werden alle daheim die Schönheit der Blume bewundern. Gedacht, getan. Kaum hatte er aber mit der Blume den Hut geschmückt, als unter einem fürchterlichen Knall sich der Berg aufhat. Der Hirt sah sofort eine weitgeöffnete Tür im Felsen, vor der ein kaum spannenhohes Männlein stand, das ihm zu folgen winkte. Obwohl er durch diese unerwarteten, wunderbaren Vorgänge für den Augenblick aus der Fassung gekommen war, nahm er doch allen Mut zusammen und schritt seinem Führer nach. Der Weg ging erst durch dunkle, dann magisch erleuchtete Gewölbe, deren Wände diamantartig glitzerten, bis beide endlich in einen überaus prachtvollen Saal gelangten, der mit den kostbarsten Schätzen aller Art angefüllt war, und in dessen Mitte sich eine weißgekleidete Jungfrau befand. Diese betrachtete den erstaunten Hirtenjungen mit freundlichen Blicken und hub dann lächelnd an: „Hier hast du die feinsten und auserlesensten Speisen, genieße von ihnen! Wohin du blickst, sind ganze Haufen von Gold, Perlen, Edelsteinen und köstlichen Gewanden aufgeschichtet. Nimm dir davon, soviel Dein Herz begehrt, doch vergiss das Beste nicht!“ Der Junge, durch die vernommenen Worte ermutigt, griff nach den besten Speisen und aß und trank, steckte sich hernach Hut und Taschen voll Gold und Edelsteine, und schickte sich zum Rückwege an. „Vergiss doch das Beste nicht!“ Rief lauter und ängstlicher zum zweitenmale die Jungfrau mit flehenden Gebärden. Der Hirtenjunge spähte umher und erblickte zu seiner Verwunderung eine Peitsche, welche vortrefflich zu seinem Geschäfte zu passen schien. Da dachte er: Du hast dir schon von allen Schätzen im Überfluss genommen, diese Peitsche da wird jedenfalls das Beste für dich sein! Mithin griff er ohne Bedenken nach der Peitsche. Da fing aber die Jungfrau bitterlich zu weinen und zu wehklagen an, ein plötzlicher Donnerschlag erschütterte den Saal so, dass der Boden unter den Füßen des Hirten wankte, der im Nu wieder auf der Oberfläche des Berges stand. Jetzt erst erinnerte er sich an seine Wunderblume. Mit Hast griff er an den Hut, um sie herabzunehmen, aber er bemerkte zu seinem größten Leidwesen, dass er sie unter den Schätzen im Felsensaale zurückgelassen habe. - Mit den Worten: „Vergiss doch das Beste nicht!“ Hatte die Jungfrau die gelbe Blume, den Schlüssel zum verzauberten Schlosse gemeint. Hätte der Junge dieselbe nicht vergessen, so würde er nicht nur die Jungfrau von ihrem Zauber befreit, sondern auch den ganzen Schatz gehoben haben. Seit dieser Zeit hat niemand die Zauberblume, die

alle tausend Jahre einmal zum Vorschein kommen soll, auf dem Spitzberge gefunden, in dessen Innerem auch der Schatz noch heute verborgen liegt. Der Hirtenjunge aber, der ein reicher Mann wurde, wäre zweifellos noch reicher und glücklicher geworden, wenn er nicht das Beste vergessen hätte.


Bereits in der Einleitung ist daraus hingewiesen worden, wie unter dem Hirten Donar und unter der den Zugang zu den goldenen Schätzen im Innern des Berges öffnenden Blume der Blitz zu verstehen sei. Die Wolke wird als Berg gedacht, aus ihr leuchtet nach dem Gewitter wieder die Sonne goldig hervor. Die Sonne ist der Schatz. Die Schafe oder Kühe, welche der Hirt hütet, sind ebenfalls Wolken, Donar ist der Wolkenhüter. Die den Schatz hütende weiße Jungfrau ist eine von den Wolkenfrauen, welche der Erde himmlische Milch, d. h. den Regen spendeten, aber auch in Bergen wohnten, da man sich, wie bereits bemerkt wurde, den Berg als Wolke dachte. (Mannhardt a. a. O. S. 204, Grohmann, Sagen aus Böhmen, I., S. 87.) - Der gleiche Sagenstoff, allerdings mit mancherlei Modifikationen, aber immer als Darstellung von einem Hirten, welcher eine Blume findet, die der Schlüssel zu einem großen Schatze ist und mit dem Zurufe: „Vergiss das Beste nicht!“, als die Blume vergessen wurde, tritt uns in Überlieferungen aus dem Fichtelgebirge (Zapf a. a. O., S. 19 und 25), sowie besonders zahlreich im Thüringerwalde (Witzschel, Sagen aus Thüringen, No. 125, 138, 173, 180, 276, Gräßler, Sagen aus Mansfeld, No. 20 und 211) und an noch vielen anderen Orten entgegen. Auch die Lausitz, sowie das Vogtland und der Harz besten Sagen von Wunderblumen, durch welche man verborgener Schätze teilhaftig werden kann, sie unterscheiden sich jedoch insofern von den vorigen, als hier nicht der warnende Zuruf ertönt, das Beste nicht zu vergessen.

Sagen von Schlössern, welche in die Erde versanken, weil ihre Insassen Raub und Mord und andere Gräueltaten verübten, erzählt der Volksmund auch in anderen Gegenden. So bezeichnet das sogenannte Silberloch bei Seesen im Harze die Stelle, wo gleiches geschah. Auch hier lässt sich zuweilen eine weißgekleidete Jungfrau mit einem Schlüsselbunde, welche die Sage als die mildtätige Tochter des Burgherrn bezeichnet, sehen, um, wie sie es im Leben getan, auch ferner den Unglücklichen und Notleidenden beizustehen. (H. Heine, Sagen aus dem Harze, S. 10.)



 
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