105. Spuk auf dem Grauensteine bei Joachimsthal. E-Mail

(Wenisch, Sagen aus dem Joachimsthaler Bezirke, S. 63 ec.)


Nach einer Überlieferung soll der Grauenstein ein verwünschtes, durch Zaubersprüche unsichtbar gewordenes Schloss sein. Einst veranstalteten die nächsten Umwohner eine Prozession, um die am Grauenstein polternden Geister und Gespenster zu bannen und zur Ruhe zu bringen. Auf einmal hörte man Musik und Gesang in den Lüften, ja noch mehr, ein ganzer Schwarm von Geistern kam auf die Herannahenden zu. Erschreckt ergriffen die Leute die Flucht, und der Grauenstein ward umso mehr gefürchtet. Einem armen Bergmanne träumte drei Nächte hinter einander, er solle um 12 Uhr des Nachts auf den Grauenstein gehen, er könne das Schloss erlösen. Er machte sich auf den Weg, und als er sich demselben näherte, hörte er lärmende Musik. Er sah zwei Reiter dahersprengen, die zwischen sich ein leeres schmuckes Pferd führten und dem Erschreckten winkten. Da sank sein Mut, er kehrte den Reitern den Rücken, und mit Krachen und Zischen war alles verschwunden. Andere Bergleute wollen zur Abendzeit Musik vernommen haben, die sich vom Grauensteine gegen die Schwedenschanze gleichsam fortbewegte und dort in die Töne des pfeifenden Windes sich auflöste, ja einer erzählte sogar, er habe einmal zwischen elf und zwölf Uhr des Nachts die erleuchteten Fenster des verwünschte Schlosses gesehen und sie gezählt, als er zu dieser Zeit Holz holte. In dem Talgrunde, wo jetzt bei Joachimsthal die große k. k. Zigarrenfabrik steht, wohnte vor etwa siebzig Jahren ein Mann, mit Namen Huß. Als derselbe eines Abends bei mattem Lampenscheine in seinem Stübchen saß, klopfte es plötzlich an sein Fenster. Er öffnete dieses mit der Frage, wer so spät da sei? „Mach´ auf Kamerad!“ War die Antwort des Klopfenden. Huß hieß ihn in die Stube treten und erkannte in dem Ankömmling seinen alten Kriegsgenossen aus

Tirol. „Sage mir doch, mein Lieber,“ sprach Huß, „was Dich in so später Nacht zu mir führt?“ „Mir hat geträumt“, antwortete der Tiroler, „dass ich nach der Bergstadt St. Joachimsthal gehen und das unweit davon gelegene verwünschte Grauensteiner Schloss von seinem Zauber befreien soll. Du bist in der Gegend bekannt und wirst mir gewiss den Weg zum Grauenstein zeigen.“ „Diesen Freundschaftsdienst kann ich dir, Waghals, schon erweisen, wir gehen um elf Uhr hinauf,“ entgegnete der treuherzige Huß seinem ehemaligen Waffengefährten. - Nachdem beide den freien Platz erreicht hatten, der im Volksmunde „Kuhplatz“ heißt, hörten sie aus der Ferne eine liebliche Musik. Hier blieb Huß stehen, während der Tiroler bergauf in der Richtung weiter ging, woher die Wunderklänge drangen. Endlich kam er gegen Mitternacht am Grauensteine an und sah auf einmal vor sich das verzauberte Schloss, strahlend im wundervollen Lichtglanze, wie er sein Lebtag noch keinen gesehen. Furcht und Freude kämpften bei diesem Anblicke in seinem Herzen, aber je mehr er sich dem Schlosse, dem Ziele seiner Wünsche, näherte, desto größere Schweißtropfen traten auf seine Stirn. Schon stand er beim offenen Portale, da kehrte er, von Angst und Grauen überwältigt, wieder um, in demselben Augenblicke jedoch donnerte und krachte es und im Nu waren die Lichter samt dem Schlosse, das noch immer seiner Erlösung harrt, verschwunden.



 
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