706. Der Mühlgrabenstollen bei Schloss Scharfenstein. E-Mail

(Herm. Grimm, Das sächs. Erzgeb. Dresden, 1847, S. 299. Gießler, Sächs. Volkssagen, Stolpen o. I., S. 591.)


Vom Fuße des Schlossberges Scharfenstein schiebt sich eine schmale, niedrige, kaum 10 Meter hohe Felsenrippe weit in das Tal hinein. Durch dieselbe wird die Zschopau genötigt, eine beinahe wieder zurücklaufende Krümmung zu machen und das Tal im weitesten Bogen an seinem äußersten Rande zu umkreisen. Bereits im 16. Jahrhunderte wurde ungefähr in der Mitte dieser Felsenbank ein 30 Meter langer Stollen durch dieselbe gebrochen, um das Flusswasser mit recht viel Fall zu der jetzt Fiedler-Lechla´schen Spinnerei zu leiten. Im Jahre 1834 wurde derselbe erweitert, was später noch einmal geschah.

Die Sage erzählt nun über die Entstehung dieses Stollens folgendes: Nach dem dreißigjährigen Kriege trieben sich in den Wäldern Scharfensteins wie anderwärts Räuber und Wildschützen, welche sich meist aus den entlassenen Söldlingen rekrutierten, umher. Ein Herr von Einsiedel, welchem Scharfenstein gehörte, beschloss den Wildschützen mit aller Macht nachzugehen, um sein Gebiet von ihnen zu säubern, und es gelang ihm auch endlich, zwei derselben gefangen zu nehmen. Es gab damals noch eine furchtbare Strafe für die auf der Tat ertappten Wilddiebe: das Hirschreiten. Der Schlossherr zögerte nicht, diese Strafe auch über die beiden gefangenen Raubschützen verhängen zu lassen. Dieselben sollten auf einen starken lebenden Hirsch, den man zu diesem Behufe eingefangen hatte, gebunden und dann ihrem weiteren Schicksale überlassen werden. Das war einem zehnfachen Tode gleich zu achten, denn man hatte Beispiele, dass nach Tagen und Wochen die geängstigten Tiere ihre schreckliche Last, zerfleischt und doch noch lebend mit sich herumschleppten. Als den beiden Missetäter das Urteil verkündigt worden war, erkannten sie sofort dessen furchtbare Bedeutung und sie flehten um Gnade. Den älteren von ihnen durchzuckte ein rettender Gedanke und er sprach zum Schlossbesitzer. „Gnädiger Herr, wir sind Bergleute unserem Berufe nach, und in diesem Fache gar wohl erfahren. Schon früher ist uns der Wunsch nahe gelegt worden, einen Stollen vom Wasserspiegel der Zschopau aus zu treiben, damit eine Wassermühle im Dorfe, an der es jetzt so sehr fehlt, angelegt werden könne. Erlasst uns nur die furchtbare Strafe des Hirschreitens, und zur Sühne unserer Taten machen wir uns anheischig, den besagten Stollen durch den hohen Felsen in Zeit von drei Tagen und drei Nächten zu treiben und zwar nur mit Schlägel und Eisen.“ Der Schlossherr ging nach kurzer Überlegung auf den Vorschlag ein, und die beiden Verurteilten begannen sofort ihr schweres Werk. Es wurden ihnen Leute gestellt, welche die nötige Handreichung tun mussten, und genau nach Verlauf der ausbedungnen Zeit war der Stollen fertig. Die Wildschützen freilich waren vor Erschöpfung dem Tode nahe, halb entseelt lagen sie neben dem Stolleneingange. Doch erholten sie sich und der Ritter vom Scharfenstein hielt sein Wort und schenkte ihnen Freiheit und Leben. Erzählt wird, dass der berüchtigte Raubschütz Carl Stülpner, Ende des 18. Jahrhunderts, ein Nachkomme des einen der Begnadigten gewesen sein soll.



 
< zurück   weiter >