575. Der Katharinenstein bei Lauenstein. E-Mail

(Ziehnert, Sachsens Volkssagen, 4. Aufl., Prosaischer Anhang, No. 1.)


Um das Jahr 1651 war Agnes Katharina von Bünau, geb. von Ponikau, Besitzerin von Lauenstein. Ihr Gemahl war auf einer Reise nach Mainz gestorben und hatte sie in Mutterhoffnungen zurückgelassen. Im dritten Monat ihres Wittums gebar sie einen Sohn, der unter der sorgsamen Pflege der Mutter und einer Amme wohl gedieh. Der Knabe war wenig über das zweite Jahr alt, als einst an einem schönen Sommertage Frau Katharina mit der Amme ohnweit des Schlosses auf jenem Hügel lustwandelte, welcher jetzt der Pavillon heißt. Als der Knabe in den Armen der Amme entschlummert war, sprach die Mutter: „Lass uns Blumen pflücken, damit wir ihn dann mit einem Kranze schmücken.“ Die Amme bettete das Kind an der Höhe des Hügels in das weiche Gras und half sodann der Herrin die Blumen zu dem Kranze pflücken. Da schoss plötzlich aus der Höhe über dem nahen Forste ein gewaltiger Raubvogel herab auf das schlummernde Kind, fasste es mit den Klauen und schwang sich damit in die Höhe. Doch schien des Knaben Last seinem Fluge hinderlich,

denn kaum achtzig Fuß hoch flog er langsam nach den Felsklüften und Wäldern jenseits des Schlosses. Jetzt gewahrten die beiden Frauen den Raub des Kindes. Zum Tode erschrocken schlug die arme Mutter die Hände vor das Gesicht und sank ohnmächtig nieder, die Amme aber verfolgte schreiend und händeringend den über ihr fliegenden Räuber. Schon schwebte derselbe über dem hohen und felsigen Hügel, der im oberen Teile des unmittelbar vor dem Schlosse liegenden Städtchens Lauenstein sich erhebt, - da fiel ein (Schuss. Ein Jäger, welcher, aus dem nahen Forste zurückkommend, die Gefahr sah, hatte den Schuss getan und gut getroffen. Der Vogel stürzte tot zur Erde und lebend und wohlbehalten hing das geraubte Kind an den Klauen des erschossenen Vogels.

Zum Andenken an diese wunderbare Rettung ihres Söhnchens ließ Frau Katharina auf dem Hügel, wo der Vogel tot niederstürzte, einen Turm erbauen und später auch eine Glocke darin aufhängen. Dieser Turm ist zur Ruine geworden und die Glocke hängt jetzt auf dem Turme der Lauensteiner Kirche, der Hügel aber heißt heute noch der Katharinenstein.



 
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